Dank an Goethe – Hermann Hesse

Von Hermann Hesse

Kaum erwartet, um so freudiger begrüßt, kam in diesen Tagen ein Brief von Hermann Hesse mit jüngsten Arbeiten des erkrankten Dichters; So erfuhren wir, wie tief innerlich berechtigt der Frankfurter Goethepreis an Hermann Hesse gegeben wurde, der nun auch mit dem Nobelpreis ausgezeichnet ist. Der Dichter hat jüngst die Aufsätze, die er in verschiedenen Zeiten seines Lebens über Goethe geschrieben hat, überarbeitet, Neues hinzugefügt und zu einem Bändchen zusammengestellt, das unter dem Titel “Dank an Goethe” erschienen ist. Zwölf Jahre hindurch hatte der Geist des Despotismus die stille Existenz dieses Weisen und Künstlers verfolgt und bedroht. Als der braune Terror zusammenbrach, entdeckten viele, wieder ihre Liebe zu Hermann Hesse neu, doch nicht alle näherten sich ihm in gebührender Haltung. “Seit einem Jahr”, so berichtet er, “habe ich etwa 4000 Briefe von Deutschen bekommen, einige hundert davon waren Schmähbriefe, einige hundert kamen von Kriegsgefangenen in England, Frankreich, Ägypten, Syrien und Amerika. Ich habe mehr als die Hälfte dieser Briefe, die meistens auch Bitten enthielten, irgendwie beantwortet, manchmal durch eigens dazu hergestellte Dünndrucke, habe an Kriegsgefangene Bücher verschenkt, verpackt und versandt. Die Folge dieser täglichen unsinnigen Überanstrengung ist eine so völlige Erschöpfung, daß ich mein Haus in Montagnola habe schließen müssen und in einem Sanatorium bin, wo aber auch jeden Tag zweimal ein Packen Briefe. komm. Neues zu schreiben und mich im heutigen Deutschland zum W>rt zu melden liegt mir fern. Ich habe Deutschland meine Lebensarbeit überlassen, und es hat sie vertan.”

Spät hat Deutschland den Dichter im Namen Goethes geehrt. Die Ehrung bleibt eine schöne Geste, solange ihr nicht die notwendige Wiedergutmachung folgt, die nur darin bestehen kann, durch eine neue Herausgabe seines Werkes dem Dichter wieder Stimme zu verschaffen, die mehr denn je gehört zu werden verdient. Dann erst haben wir die Schuld abgetragen, zu der das Erbe Goethes verpflichtet; den der Dichter uns gerade heute wieder als Führer voranstellt. (Der nachfolgende gekürzte Aufsat: ist dem jüngsten Werk Hesses “Dank an Goethe”, Verlag Werner Gassen, Zürich, entnommen.)

Unter allen deutschen Dichtern ist Goethe derjenige, dem ich am meisten . Verdanke, der mich am meisten beschäftigt, bedrängt, ermuntert, zu Nachfolge oder Widerspruch gezwungen hat. Er ist nicht etwa der Dichter, den ich am meisten geliebt und genossen, gegen den ich die kleinsten Widerstände gehabt habe, o nein, da kämen andere vorher: Eichendorff, Jean Paul, Hölderlin, Novalis, Mörike und noch manche. Aber keiner dieser geliebten Dichter ist mir je zum tiefen Problem und wichtigen sittlichen Anstoß geworden, mit keinem von ihnen bedurfte ich des Kampfes und der Auseinandersetzung, während ich mit Goethe immer wieder Gedankengespräche und Gedankenkämpfe habe führen müssen. Ich lernte ihn beinahe noch als Knabe kennen, und seine Jugendgedichte samt dem Werther gewannen mich vollkommen. Mich dem Dichter Goethe hinzugeben, fiel mir leicht, denn er brachte den Duft von Jugend mit, samt dem Duft von Wald, Wiese und Kornfeld, und in seiner Sprache, von der Frau Rath her, die ganze Tiefe und die ganze; Spielerei von der Volksweisheit, die Klänge von Natur und Handwerk, und dazu einen hohen Grad von Musik. Dieser Goethe, der reine Dichter, der Sänger, der ewig junge und naive, ist mir denn auch nie zum Problem geworden und hat sich mir nie verdunkelt.

Dagegen geriet ich während meiner Jünglingsjahre noch an einen anderen Goethe: an den großen Schriftsteller, an. den Humanisten, Ideologen und Erzieher, den Rezensenten und Programmatiker, an den Weimarer Literaten Goethe, an den Freund Schillers, den Kunstsammler, den Zeitschriftengründer, den Verfasser zahlloser Aufsätze und Briefwechsel, den Diktator Eckermanns, und auch dieser Goethe wurde mir ungeheuer wichtig. Anfangs bewunderte und verehrte ich auch ihn bedingungslos, und verteidigte gegen meine Freunde oft noch seine kanzleimäßigsten Skripturen. War auch seine Erscheinung je und je etwas bürgerlich, etwas bieder, etwas. beamtenhaft und allzu weit aus den Wildnissen Werthers entlaufen, so war das Format doch immer groß, und gemeint war immer ein hohes Ziel, das edelste aller Ziele: die Ermöglichung und Begründung eines vom Geist regierten Lebens, für ihn selbst nicht nur, sondern für seine Nation und seine Zeit. Es war, auch noch in seinen Entgleisungen der Versuch, sich des, Wissens und jeglicher Lebenserfahrung seiner Zeit allseitig zu bemächtigen und es in den Dienst eines hohen persönlichen Geistes, ja darüber hinaus in den Dienst einer überpersönlichen Geistigkeit und Sittlichkeit zu stellen. Der Schriftsteller Goethe hatte für die Besten seiner Zeit ein Menschenbild, ein Menschenvorbild errichtet, dem zu gleichen, dem sich näher zu bilden das Ideal derer war, die eines guten Willens waren. Bei Goethe, dem Dichter, war viel zu genießen, aber nichts zu lernen. Was er konnte, war anerlernbar und einmalig. Darum wurde er mir nicht zum Vorbild oder zum Problem. Dagegen war der Literat, der Humanist und Ideologe Goethe mir sehr bald ein großes Problem geworden – kein anderer Schriftsteller außer Nietzsche hat mich je so beschäftigt, so angezogen und gepeinigt, so zur Auseinandersetzung gezwungen. Ein Stück weit schien dieser Literat Goethe mit dem Dichter Goethe ganz parallel zu gehen und beinahe eins zu sein, plötzlich aber waren sie weit auseinander, widersprachen sich und taten einander Abbruch. War auch der Dichter sympathischer und brachte mehr Genuß, so war doch der Literat Goethe sehr wichtig zu nehmen und durfte nicht umgangen werden, das fühlte ich schon als Zwanzigjähriger; denn er war der großzügigste und scheinbar geglückteste Versuch, ein deutsches Leben auf den Geist zu begründen. Er war ferner ein ganz einmaliger Versuch zu einer Synthese der deutschen Genialität mit der Vernunft, zu einer Versöhnung des Weltmannes mit dem Himmelsstürmer, des Antonio mit dem Tasso, der unverantwortlichen, musikalisch-dionysischen Schwärmerei mit einem Glauben an Verantwortlichkeit und sittliche Verpflichtung. Geglückt war dieser Versuch offenbar nicht ganz. Er konnte ja auch gar nicht glücken! Er mußte trotzdem immer und immer wiederholt werden, denn das Höchste und Unmögliche immer wieder anzustreben, das gerade schien mir ja das Merkmal des Geistes zu sein. Es war Goethe in seinem eigenen Leben und Werke nicht ganz geglückt, den naiven Dichter und den klugen Weltmann, die Seele mit der Vernunft, den Anbeter der Natur mit dem Prediger des Geistes zu vereinigen; es klaffte da und dort ein breiter Riß, es entstanden da und dort peinliche, ja unerträgliche Konflikte. Es hing zuweilen die Vernunft und Tugend dem Dichter wie eine zu große Perücke um den Kopf, und es erstickte nicht selten seine naive Genialität in einer Steifheit, die aus dem Streben nach Bewußtheit und Bändigung entständen war.

Und darüber hinaus schien, es Goethe auch nicht geglückt zu sein, sein Vorbild durchzusetzen und etwas wie eine richtige Schule oder Lehre zu hinterlassen. Auch jenen Dichtern und Schriftstellern, die sich die größte Mühe gaben, seinem Vorbild nachzueifern, gelang es nicht, die gesuchte Einheit zu erreichen, sie blieben sogar weit hinter dem Vorgänger zurück. Ein Beispiel von vielen war Stifter, ein geliebter Dichter ersten Ranges, der in seinem wundervollen “Nachsommer” gelegentlich richtig wie ein kleinerer – Goethe über Kunst und Leben philiströse’Gemeinplätze in einer papierenen Sprache von sich geben konnte, bei dem man erschrak, daß sie so dicht neben den zauberhaftesten Schönheiten stehen konnten.

Nein, es war Goethe nicht so ganz geglückt, und zu Zeiten wurde er mir dadurch richtig fatal und peinlich. War er am Ende wirklich, wie die ihn – nicht gelesen habenden, naiven Marxisten meinten, eben nur ein Heros des Bürgertums, der Mitschöpfer einer subalternen, kurzfristigen, heute längst schon wieder abgeblühten Ideologie?

Ich hätte ihn ja weglegen und es bei der Enttäuschung bewenden lassen können. Aber eben das konnte ich nicht! Eben dies war das Wunderliche, Schöne und auch Quälende: man kam nicht los von ihm, man müßte seine Anläufe mitlaufen, seine Mißerfolge mitleiden, seine Zwiespältigkeiten in sich selbst wiederfinden.

Schon dies war ja gewinnend und groß: daß er sich nicht mit kleinen Zielen begnügte, daß er das Größe suchte, daß er Ideale aufstellte, die nicht zu – erfüllen waren. Zwingend aber war vor allem die mit den Jahren bei mir wachsende Einsicht, daß Goethes Problem nicht das seine allein, und nicht das des Bürgertums allein war, sondern das eines jeden Deutschen, dem es mit dem Geist und mit dem Wort ernst war.

Manche Jahre habe ich mich so mit Goethe geplagt und ihn zur Unruhe meines geistigen Lebens werden lassen, ihn und Nietzsche. Wäre nicht der Weltkrieg gekommen, ich hätte noch tausendmal dieselben Gedanken gedacht und dieselben Schwankungen geschwankt. Aber es kam der Krieg, und es zeigte sich mir mit dem Krieg das alte deutsche Problem des Schriftstellers, das tragische Schicksal des Geistes und des Wortes im deutschen, Leben schmerzlicher als jemals. Es zeigte sich das vollkommene Fehlen jeher Tribüne, an welcher Goethe einst gebaut hatte. Es trat eine verantwortungslose, teils begeistert trunkene, teils auch einfach gekaufte Schreiberei auf den Plan, eine sehr patriotische, aber dumme, verlogene und rohe Schreiberei, unwürdig Goethes, unwürdig des Geistes, .unwürdig des deutschen Volkes, sogar berühmte Gelehrte und Autoren schrieben plötzlich wie Unteroffiziere, es schien nicht nur jene Brücke zwischen Geist und Volk abgebrochen, es schien überhaupt keine Geister mehr zu geben.

Scheinbar hörte hier das Problem Goethe für längere Zeit in meinem Leben auf. Es hieß jetzt nicht mehr Goethe, sondern Krieg, und als der Krieg zu Ende war, hieß es: Europa, und heute steht es ja wohl auch so, daß in allen Ländern Europas die kleine Minorität der Denkenden das Problem und die Forderung der Stunde genau erkannt hat, während die gesamte offizielle Gehabung und Politik noch immer dicht vor dem Abgrund für die bunten Fahnen schon erstorbener Ideal; kämpft.

Es war Krieg, und für den Augenblick schien es keinen Goethe mehr zu geben, während doch sein großes Problem: die Regierung des Menschenlebens durch den Geist, das einzige brennende Problem in der Welt war. Wir Literaten, soweit wir nicht käuflich oder eben vom Krieg betrunken waren, sahen uns genötigt, Schritt für Schritt die eigenen Fundamente abzutasten und Schritt für Schritt uns über die eigene Verantwortlichkeit klar zu werden. Meine Geistessorgen waren in ein flammendes Stadium getreten. Aber auch mitten im Kriege gab es je und je Auseinandersetzungen mit Goethe, und zuweilen beschwor der aktuelle Konflikt ganz plötzlich seine Gestalt, welche mir von neuem zum Sinnbild wurde. Das geistige und sittliche Problem, das mir im eis’ten Stadium des Krieges das Leben zu Kampf und Qual machte, War der anscheinend Unlösliche Konflikt zwischen Geist und Vaterlandsliebe. Hätte man damals den offiziellen Stimmen, vom großen Gelehrten bis zum Zeitungsplauderer herab Glauben schenken wollen, so war der Geist (nämlich die Wahrheit und der Dienst an ihr) der direkte Todfeind des Patriotismus. War man Patriot, so hatte man nach der öffentlichen Meinung mit Wahrheit nichts zu tun, war ihr keineswegs verpflichtet, sie war Spielerei und Schimäre. Vielmehr war der Geist innerhalb des Patriotismus lediglich so weit erlaubt, als er mißbraucht werden konnte, um die Kanonen zu unterstützen. Wahrheit war Luxus, und Lüge war im Namen und-Dienst des Vaterlandes erlaubt und löblich. Ich konnte mir die Moral der Patrioten nicht zu eigen machen, so sehr ich Deutschland liebte, denn ich sah im Geist nicht ein beliebiges Werkzeug oder Kampfmittel, und ich war nicht General oder Kanzler, sondern stand im Dienst des Geistes. Die Patrioten, welche damals jeglichen Besitz der Nation als Kriegsmittel auszuhelfen suchten, entdeckten sehr bald, daß Goethe zu diesem Zweck unbrauchbar sei, er war kein Nationalist, und er hatte sogar seinem Volke einige Male recht unangenehme Wahrheiten zu sagen gewagt.

Als damals Romain Rolland in einem seiner Kriegsaufsätze mich als Gesinnungsgenossen entdeckte und meinen Standpunkt als “goethisch” bezeichnete, traf das Wort mich mit durchdringender Mahnung: es erinnerte mich an Goethe, den Stern meiner Jugend, und bestärkte mich in allem, was mir leilig war, und zugleich entging mir nicht, daß vom offiziellen deutschen Standpunkt aus die Bezeichnung “goethisch” geradezu ein Schimpfwort war.

Auch dieses Stadium ist vorüber. Und jener heftige Einschnitt in unser Leben hatte also nicht vermocht, mich von Goethe zu trennen, mir ihn gleichgültig werden zu lassen.

Woran mochte das liegen? War Goethe am Ende noch mehr als der zum Teil gescheitere Schriftsteller und Ideologe, war er nicht auch ein wenig mehr als nur der geniale, sprachkräftige Dichter? Warum mußte man zu ihm zurück, auch wenn man sich in Wichtigem von ihm getrennt hatte?

Wenn ich das zu ergründen suche, dann entsteht vor meiner Anschauung noch ein anderer Goethe, ein weniger deutlich umrissener, ein halb sichtbarer und geheimnisvoller: Goethe, der Weise. So klar und so liebenswert mir das Bild des zauberischen Dichters Goethes erscheint, so klar ich auch den Literaten und Lehrer Goethe zu sehen glaube – hinter diesen Gestalten steht, durch sie, hindurchscheinend, noch eine andere Gestalt. In dieser,’für mich höchsten Goethe-Gestalt vereinen sich die Widersprüche; sie deckt sich nicht mit der einseitig apollinischen Klassizität noch auch mit dem die Mütter suchenden, dunklen Faustgeist, sondern besteht eben in dieser Bipolarität, in diesem Überall-und-nirgends-zuhause-Sein. Einzelne Sprüche und Dichtungen dieses geheimnisvollen Weisen finden wir namentlich in seinen Alterswerken, in Gedichten, späten Faust-Partien, in Briefen, in der “Novelle”. Aber derselbe reife, überpersönliche Goethe blickt uns auch, wenn wir ihn erst einmal kennen, aus manchen Werken und Zeugnissen seiner Mannes- und Jünglingszeit an. Er war immer vorhanden, er hat sich nur oft lange verborgen. Er ist, zeitlos, denn alle Weisheit ist zeitlos. Er ist unpersönlich, denn alle Weisheit überwindet die Person.

Diese Weisheit Goethes, die er selber oft verhüllt, die ihm selber oft wieder verlorengegangen schien, ist nicht mehr bürgerlich, ist nicht mehr Sturm und Drang oder Klassizismus oder gar Biedermeier, sie ist sogar kaum mehr goethisch, sondern sie atmet gemeinsame Luft mit der Weisheit Indiens, Chinas, Griechenlands, sie ist nicht mehr Wille und nicht mehr Intellekt, sondern Frömmigkeit, Ehrfurcht, Dienenwollen: Tao. Jeder echte Dichter hat ja einen Funken von ihr, weder Kunst noch Religion sind ohne sie möglich. Und gewiß atmet sie auch im kleinsten Gedicht von Eichendorff, aber sie hat bei Goethe ein paarmal sich zu so magischen Worten verdichtet, wie sie es nicht in jedem Volke und nicht in jedem Jahr-, hundert tut. Sie steht hoch über aller-Literatur. Sie ist nichts als Anbetung, nichts als Ehrfurcht vor dem Leben, sie Will nur dienen und kennt keine Ansprüche, keine Forderungen oder Rechte.

Daß Goethe durch sein Dichtertum und durch sein Literatentum hindurch je und je zu diesem Höchsten emporgestoßen ist, zu der Ruhe über den immer wieder zu ihm gezogen, was mich veranlaßt hat, auch manche seiner zweifelhaften, seiner mißglückten Schriften je und je wieder zu durchsuchen. Denn es gibt kein höheres Schauspiel als den Menschen, der weise geworden ist und die Befangenheit des Zeitlichen und Persönlichen abgestreift hat. Und wenn wir an allem Glauben, an aller Weisheit zu verzweifeln beginnen, dann kann es recht eigentlich ein Trost sein, die Wege eines Weisen zu verfolgen und zu sieben, wie menschlich, wie schwach, wie unzulänglich auch er zuzeiten sein konnte.

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